WIEN
Bezirksmuseum Wieden

 

Ohne Inv.-Nr.
ANTIPHONARIUM (Fragment)

wohl Wien, Minoritenkloster, 2. Hälfte 14. Jh.

fol. Ir fol. I.v fol. IIr fol. IIv

Pergament, 2 Blätter: Fragm. I: 330 x 235 mm – Fragm. II: 325/330 x 250/255 mm. Bei Fragm. II links ein Streifen des zweiten Teiles des Doppelblattes mit minimalen Textresten.

Die beiden Blätter wurden als Einbandumschlag eines unbekannten Buches zweitverwendet. Fragm. Ir bzw. Fragm. IIv sind jeweils schlecht erhalten (starke Leimspuren). Der Trägerband war ca. 300 mm hoch und 200 mm breit.
Die Blätter des Chorbuches, dessen Fragmente hier erhalten sind, müssen zumindest 330 mm hoch gewesen sein: oberhalb des Schriftspiegels mindesten 30 mm unterhalb mindesten 35 mm; die Breite betrug mindestens 255 mm; innen ein Rand von 30 mm, außen zumindest von 55 mm.
Schriftspiegel: 260/265 x 165/170 mm, 8 Notenzeilen, Textualis und gotische Quadratnotation auf vier roten Notenlinien

Ausstattung
Cadellen am Beginn von Versen (Fragm. Irv, IIr); einzeilige rote Lombarden (ohne Fleuronnée) und ebensolche in blau jedoch mit rotem Fleuronnée (Fragm. Iv, IIrv).
Die Lombarde Fragm. IIr mit einer Fleuronnée-Leiste (eine weitere Fleuronnée-Leiste auf dem Streifen des zweiten Teils es Doppelblattes bei Fragm. IIv erkennbar).

Das Fleuronnée ist präzise gezeichnet mit zeittypischen Knospen- und Spiralformen. Die Besatzformen mit Perlenreihen und diese unterbrechenden Knospenwiegen mit aufgesetzten Fibrillen weisen auf Formen, die schon im 13. Jahrhundert entwickelt wurden und die in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts zunehmend durch repetitive Anordnung der Elemente verändert werden. Neue Elemente der Fleuronnée-Gestaltung, die auf eine Entstehung im 15. Jahrhundert weisen könnten, fehlen.

Die nur mit der Feder und in Schreibertinte gezeichneten Cadellen sind üppig und groß. Ihr Formenkanon enthält nur wenige Elemente, die auch im Fleuronnée vorkommen. Vergleichbar üppige Cadellen werden erst in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts in Mitteleuropa üblich.

Die Dekorformen sind sicher nicht italienisch und auch eine westeuropäische Entstehung kann ausgeschlossen werden. Der stilistische Bezugsrahmen ist Mitteleuropa, wobei Böhmen und sein Einflussbereich mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden können.

Inhalt
Responsorien, Versikel und Antiphonen zur Nocturn „De Sapientia“ (August) des Offiziums der Wochentage (de feria):

Fol. Ir
Responsorium: Magna enim sunt judicia tua Domine et inenarrabilia verba tua. Magnificasti populum tuum et honorasti.
CAO 7113: http://cantusindex.org/id/007113

Versikel: Transtulisti illos mare Rubrum et transvexisti eos per aquam nimiam.
CAO 7113b: http://cantusindex.org/id/007113b
Magn(…)

Responsorium: Que sunt in corde hominum oculi tui vident Domine […]

fol. Iv
[…] et in libro tuo omnia scribentur. Homo videt in facie Deus autem in corde.
CAO 7457: http://cantusindex.org/id/007457

Versikel: Omnia enim corda scrutatur et universas mentium cogitationes intelligit.
CAO: 7457b: http://cantusindex.org/id/007457b
Homo (…)

Responsorium: Prebe fili cor tuum michi et oculi tui vias meas custodian. Ut addatur gratia […]

fol. IIr
[…] capiti tuo.
CAO 7416: http://cantusindex.org/id/007416

Versikel: Attende fili mi sapientiam meam et ad eloquium meum inclina aurem tuam.
CAO 7416a: http://cantusindex.org/id/007416a
Ut addatur (…)

Tit.: Antiphone subscripte dicuntur in feriali officio ad Magnificat usque ad kalendas septembris. Ad Magificat antiphona
Antiphon: Ego in altissimis habito et thronus meus in columpna nubis.
CAO 2576: http://cantusindex.org/id/002576
Psalm: Magnificat

Ad Magnificat antiphona: Omnis sapientia a Domino Deo est et cum illo fuit semper et est ante evum.
CAO 4153: http://cantusindex.org/id/004153

fol. IIv
Psalm: Magnificat

Ad Magnificat antiphona: Sapientia clamitat in plateis si quis diligit sapientiam ad me declinet et eam inveniet et eam cum invenerit beatus est si tenuerit eam.
CAO 4811: http://cantusindex.org/id/004811
Psalm: Magnificat

Antiphon: Observa fili precepta patris tui et ne dimittas legem matris tue liga eam in corde tuo jugiter.
CAO 4101: http://cantusindex.org/id/004101
Psalm: Magnificat

Antiphon: Audi fili mi disciplinam (patris tui et ne dimittas legem matris tue ut multiplicentur tibi anni vite tue) (bricht mit den Seitenende ab).
http://cantusindex.org/id/200410

Liturgische Bestimmung
Die Meta-Datenbank „Cantus Index“ (http://cantusindex.org/home) und die Datenbank „Cantus Manuscript Database: Inventories of Chant Sources“ (http://cantus.uwaterloo.ca), die beide an der Universität Waterloo in Canada beheimatet sind, ermöglichen eine Detailanalyse der Texte. Eine identische Abfolge der Teile und einzelne Lesarten finden sich nur in Antiphonarien, die für die franziskanische Liturgie gesichert sind.

DIGITALISAT – um 1300
Freiburg/Fribourg, Couvent des Cordeliers, Ms. 2:
http://www.e-codices.unifr.ch/en/fcc/0002/142r

13. Jahrhundert, erste Hälfte (nach 1232/35)
Assisi, Biblioteca comunale, Ms. 693 und 694: http://cantus.uwaterloo.ca/chants?source=123670&folio=190v bzw. http://cantus.uwaterloo.ca/chants?source=123669&folio=209v

München, Franziskanerkloster St. Anna, Bibliothek, Ms. 12o Cmm 1:
http://cantus.uwaterloo.ca/chants?source=123673&folio=141v

Rom, Città del Vaticano, Biblioteca Apostolica Vaticana, Ms. lat. 8737:
http://cantus.uwaterloo.ca/chants?source=123676&folio=159r

13. Jahrhundert
Assisi, Cattedrale San Rufino, Archivio e Biblioteca, Ms. 5: http://cantus.uwaterloo.ca/chants?source=123675&folio=303

13. Jahrhundert, zweite Hälfte
Napoli, Biblioteca nazionale Vittorio Emanuele III, Ms. vi. E. 20: http://cantus.uwaterloo.ca/chants?source=123674&folio=193v

14. Jahrhundert
Budapest, Egyetemi Könyvtár (Universitätsbibliothek), Ms. lat. 119: http://cantus.uwaterloo.ca/chants?source=123598&folio=088v

ca. 1400
Dubrovnik, Franjevački Samostan (Franziskanerkloster), Cod. F: http://cantus.uwaterloo.ca/chants?source=123722&folio=158r

 

Einordnung
Die Blätter überliefern, wie festgestellt werden konnte, eine spezifische Abfolge der Gesänge, die auf die franziskanische Ordensfamilie weist. Neben dem Versikel „Transtulisti“ ist die Antiphon „Ego in“ für den franziskanischen Ablauf typisch.
Die stilistische Einordnung der Ausstattung weist auf Mitteleuropa (siehe oben). Auf Grund der Tatsache, dass die Blätter in Wien aufgefunden wurden und der Fleuronnée-Stil einer Entstehung in Wien zumindest nicht entgegensteht, kommt vor allem das Wiener Minoriten­kloster in Frage.
Die Franziskaner errichteten erst im 15. Jahrhundert in der Vorstadt eine Niederlassung und übersiedelten erst in späteren 16. Jahrhundert in die Stadt (Franziskanerplatz).

 

Datenaufnahme und Beschreibung: Martin Roland, Juli 2017

(Ich danke Robert Klugseder für die liturgie- und musikwissenschaftliche Prüfung und
Katrin Janz-Wenig für eine der Transkriptionen.)

Diese Beschreibung ist Teil der "Materialien zur Buchmalerei" (Ma-zu-Bu): https://manuscripta.at/Ma-zu-Bu/materialien_index.html