Lagen: III + (V-1)9 + 6.V69 + (V-1)78 + 12.V198 + III204; vor 1 und 70 jeweils herausgeschnittenes Blatt. Reklamanten (verso) und Kustoden (recto), häufig durch Blattbeschnitt verloren oder beschnitten. – Blatt- und Bildverlust: Die Handschrift ist, obwohl vermutlich in ihren Originaleinband gebunden, nicht vollständig erhalten. Vor Bl. 1 und 70 fehlen zwei Blätter, bei dem ersten sind Schnittspuren auf dem Vorsatzblatt zu erkennen, auf dem Falz des zweiten sind verso Reste der ursprünglichen Bemalung des Blattes erhalten – dies lässt vermuten, dass beide Blätter auf ihrer Versoseite, jeweils gegenüber der auf der folgenden Rectoseite beginnenden Offizien, mit ganzseitigen Miniaturen versehen waren.
Rote Überschriften, rot gestrichelte Satzanfänge, selten rote Paragraphzeichen. – Einzeilige rote bzw. blaue Lombarden. – (1v, 4r, 6r, 7rv, 8v, 23r, 30r u. a.) am Beginn von Psalmen und Lektionen fast immer dreizeilige, unfigürliche Deckfarbeninitialen (ab 191r stattdessen dreizeilige Lombarden). (1v, 4r, 6r, 7rv, 23r) mit Rankenwerk. Meistens blaue Binnen- (selten Initial-)Felder, mit feinem weißem Filigran überzogen, dieses 1v zusätzlich mit kleinen goldenen Rosetten; (30r) zoomorphes Motiv: in Deckweiß gezeichneter Schreitvogel. (4r, 6r, 7r, 8v) Verwendung von Blattgold. – (26v, 33v, 40r, 48r, 57v, 83v, 95v, 117v, 136v, 153r, 164v, 175v, 186v) am Beginn der einzelnen Gebetszeiten 13 Deckfarbeninitialen, bis zu 30 mm hoch; diese Initialen sind aufwändiger gestaltet als die kleineren, jedoch nur 26v mit Rankenausläufern; 40r ohne Außengrund. (48r-117v) Verwendung von Blattgold (z. B. für Initialfelder, 95v Goldinitiale). – (1r, 70r und 20r) zu Beginn der beiden Offizien sowie zur Prim des ersten Offiziums drei ca. 35 mm hohe historisierte Deckfarbeninitialen, 1r und 70r auf Blattgoldgrund und mit üppigerem Rankendekor (jeweils auf drei Seitenrändern); 20r etwas kleiner, kurze Rankenausläufer, kein Blattgold. Darstellungen in den Binnenfeldern: Salvator mundi (1r), Engel (20r), Monstranz (70r). – (Vor 1r und 70r) offenbar zwei Miniaturen verloren (Farbreste auf dem Falz vor 1r); die Darstellungssujets nicht mehr erkennbar bzw. nicht mit Sicherheit rekonstruierbar.
Bildprogramm: In den Binnenfeldern sind dargestellt:
1r = Sitzender Christus, der in seiner Linken eine goldene Weltkugel mit Kreuz hält und seine Rechte segnend erhebt (Salvator mundi). Der feine Stoff des hellgrauen Gewandes Christi wirft lange, dünne Zug- und Schlauchfalten. Die Proportionen der Figur sind gestreckt, gleichwohl lassen die Modellierung der Körperrundungen, die weitgehend geschlossenen Konturen – nur unterbrochen durch einige dünne, senkrecht oder (insbesondere ganz unten) schräg abstehende Faltenschäuche – und die Einfarbigkeit des Gewandes die Figur relativ kompakt erscheinen. Die Restfläche des Binnenfeldes ist mit drei fein in Deckweiß gemalten, ganzfigurigen, bewegten Engelsfiguren ausgefüllt.
20r = Stehender Engel, nach links gewendet, en camaieu gemalt (aus dem braun-goldenen Binnenfeld unter Verwendung von Weinrot und Gelb herausmodelliert).
70r = in Pinselgold fein gezeichnete Monstranz mit weiß hervorleuchtender Hostie auf einem Altar mit Muster aus gepunktetem Rautengitter.
Kunsthistorischer Kommentar:
Ornament
Die Buchstabenkörper meistens mit Blattwerk gefüllt: Räumlich gedrehte Blattgirlanden (1v, 70r); symmetrische Blattarrangements beiderseits eines zentralen Motivs (20r, 70r), die Blätter z. T. raumgreifend (70r); nicht gedrehte, mitunter leicht bombierte Blattfriese mit gebogten Rändern (so bei den senkrechten Schäften 26v, 76v) bzw. mit kleinen, runden Blattzähnen (7v), z. T. kombiniert mit kreisrunden Einbuchtungen (57v); auch mit längeren Blattzungen (1v). – Die Außengründe der größeren Initialen entweder mit Blattgold belegt und mit dicker Farbkontur (1r, 57v, 70r), blau mit weißem Filigranekor (20r) oder mit Blattdekor: Trifolien oder dreieckige Blätter mit gebogtem Rand. – Die Binnenfelder der größeren, nicht historisierten Initialen ebenfalls entweder mit Blattgold belegt (z. B. 83v) oder in Blau und mit feinem Filigran in Deckweiß überzogen (z. B. 48r) oder aber mit en camaieu gemalten (aus der jeweiligen Binnenfeldfarbe herausmodellierten) vegetabilen Motiven: (26v) hoher Fruchtkolben, von Kelchblättern mit eingerollten Blattzungen eng umschlossen; (57v) Ranke mit efeuartigen Endblättern; (117v) Blattstrauß; (136v, 164v) jeweils drei Blüten. – Das Rankenblattwerk langfingerig, ohne tropfenförmige Erhebungen in der Mitte der leicht geschwungenen, spitz oder eckig endenden Blattzungen; (1r) auffällige spiegelsymmetrische Anordnung der an ihrem Ende z. T. eingerollten Blätter, (70r) die Ranken dynamischer geschwungen. (1r) an das Initialfeld mittig angesetzt ein runder Blütenkelch mit Manschette und geschupptem Fruchtkolben (beschnitten), weitere Blüten (auf dem linken Seitenrand "enzianartig") als den Rankenstamm unterbrechende Motive; (70r) ebenfalls eine Blüte mit Fruchtkolben. Weiteres Element sind runde Manschetten an den Serifen und am Rankenstamm (in "Goldocker" oder Gold). – Das Ornament ist buntfarbig: neben einem leuchtendem Orangerot, einem "giftigen" Hellgrün, einem hellen Blau – nur der Grund der Binnenfelder enthält ein kräftiges sattes Blau – und Altrosa/Violett kommen ein charakteristisches helles Braun, das offenbar Anteile von Gold enthält ("Goldocker"; 20r) und mit Weinrot modelliert wird, und eine zwischen Grau und Blauviolett changierende Farbe dazu.
Ikonographie / Stil und Einordnung
Die Ikonographie der Salvator-mundi-Figur (1r) ist bemerkenswert. Zum einen fehlt dem sitzenden Christus jegliche Sitzgelegenheit; zum anderen ist die Figur von Engelsfiguren umgeben. Ersteres lässt an ein Vorbild denken, bei dem Christus auf einem Regenbogen saß, was für eine in vorromanische Zeit zurückreichende ikonographische Tradition sprechen könnte. Diese wurde um 1400 in Avignon und im benachbarten Katalonien wieder aufgenommen und die segnende Figur mit Weltkugel mit Engeln umgeben: vgl. z. B. Paris, BnF, Ms. Rothschild 2529, Brevier des Martin von Aragon (294r), bzw. London, BL, Ms. Harley 2979, Stundenbuch (130r). Die von Jean de Toulouse gemalte Miniatur des Stundenbuches zeigt zudem die für diese Werkstatt typischen Camaieu-Engel, die den oberen Bereich des blauen Grundes füllen. Dieses Motiv wurde dann auch außerhalb der Werkstatt rezipiert, etwa bei einem böhmischen Meister, der in Avignon tätig war (vgl. Manzari 2006, 205-291 [zu Jean de Toulouse], 291, 328-335). Dass von der päpstlichen Residenz Traditionsströme nach Mitteleuropa reichten, ist durchaus plausibel. – Die Art der Wiedergabe mit den aufgesetzten Lichtern (mitunter strichlierend bzw. punktierend, so etwa beim Fruchtkolben 26v; 76v changierend: gelbe Lichter auf weinrotem Blatt) ist als ausgesprochen malerisch zu bezeichnen; vgl. auch die Camaieu-Figuren sowie Inkarnat und Gewand der Christusfigur 1r (siehe Bildprogramm).
Zur geographischen Einordnung der Handschrift kann vorläufig festgehalten werden, dass der erhaltene Buchschmuck einem Stil verpflichtet ist, der sich deutlich von den in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts in Österreich üblichen Tendenzen abhebt: Sowohl der z. T. frei schwingende, z. T. aber auch streng symmetrisch beiderseits des Rankenstamms angeordnete Akanthus als auch die gestreckte Christusfigur mit ihren langen, dünnen Zugfalten deuten auf eine Entstehung außerhalb Österreichs hin. Die Möglichkeit einer Entstehung der Handschrift im (Nord-)Westen Deutschlands, für die neben dem Figurentypus und der malerischen Darstellungsweise auch die Schrift sprechen könnte, müsste noch geprüft werden.
Einband: 15. Jh.
Beide Holzdeckel gebrochen. Mit rotem, dann mit bläulichem Leder bezogen. Reste bzw. Spuren von je fünf Buckeln und zwei Schließen. Rücken neuzeitlich, mit dunklem Papier beklebt; darauf Titel- und Signaturschilder.
Über den Erstbesitzer des vorliegenden kleinen Buches zur privaten Andacht ist nicht bekannt. Auffällig ist, dass bereits während des Herstellungsprozesses die Ausstattung merklich reduziert wurde: Blattgold wurde nur bis 117v verwendet, Rankenfortsätze sogar nur bis 26v (Ausnahme: 70r); ab 191v schließlich wurden statt der kleinen Deckfarbeninitialen nur noch Lombarden eingesetzt. – Einen Anhaltspunkt zur Datierung des gibt die schleifenlose Bastarda, die sich ab etwa 1420 von den Niederlanden ausgehend verbreitet und sich selbst in der zweiten Jahrhunderthälfte im Süden des deutschsprachigen Gebietes nie vollständig durchsetzt (Schneider 2014, 72-74, 76). – Keine Hinweise auf mittelalterliche Vorbesitzer. (204v) derzeit nicht zuordenbare Signatur N° 129 (16./17. Jh.); keinesfalls handelt es sich um eine der Anfang des 17. Jahrhunderts für Bestände der Hofbibliothek vergebenen Tengnagel-Signaturen (vgl. den Katalog Wien, ÖNB, Cod. 9531). Vorbesitzer: Wien, Hofbibliothek, Anfang 18. Jh. Erste Vorsignatur der Hofbibliothek ist die Anfang des 18. Jahrhunderts verwendete Gentilotti-Signatur Theol. 862. Auf dem Signaturenschild auf dem Rücken des Codex im Feld für die Olim-Signatur ist S(ine) N(ummero) eingetragen, was bestätigt, dass der Codex zur Zeit Sebastian Tengnagels noch nicht in der Bibliothek vorhanden war. Er wurde 1809 von den Franzosen nach Paris gebracht und nach dem Ende der Herrschaft Napoleons rückerstattet (vgl. Menčik 1910, XX).
Martin Roland (Forschungsstand 2015, MeSch VI; Redaktion Katharina Hranitzky 2022, mit Ergänzungen)