Univ.-Prof. Dr. Christine Ratkowitsch (Univ. Wien, Inst. f. Klassische Philologie), 25. 5. 1998
Die Darstellung scheint die allegorische Deutung der ersten Ekloge, wie sie schon in den antiken Vergilkommentaren faßbar ist und das gesamte Mittelalter hindurch bekannt war, weiterzuführen. In dem Gedicht erhält der Hirt Tityrus von dem göttlichen iuvenis, den er in Rom schauen durfte, die Erlaubnis, als einziger sein bescheidenes Gütchen behalten und auf seiner Flöte ungehindert spielen zu dürfen. Tityrus wurde immer schon mit dem Dichter Vergil gleichgesetzt, der göttliche iuvenis mit Oktavian, die Situation konkret auf die Landenteignungen in Italien gedeutet, die Oktavian 41. v. Chr., nach der Schlacht von Philippi, vornahm, um die Veteranen ansiedeln zu können: Die Ekloge sah man als einen Reflex davon an, daß damals auch Vergils Landgut bedroht war, ihm jedoch durch Vermittlung von Freunden bei Oktavian erhalten blieb. Über diese konkrete Situation hinaus geht es in dem Gedicht allerdings auch um die Freiheit des Dichtens: Während rundherum der "Bürgerkrieg" weiter tobt, darf Tityrus als einziger seine boves hüten und auf der Flöte spielen, d. h. bukolische Gedichte verfassen (dafür ist das Hüten der boves Metapher). Die Darstellung in der Handschrift nimmt darauf Bezug: Man sieht vorne Vergil/Tityrus mit einem Buch in der Hand, das das Dichten symbolisiert, dahinter einen Mann mit Schwert, der für den Krieg steht und den iuvenis Oktavian darstellt, der dem Dichter die friedliche Muße gewährt. Diese Aussage wird dadurch symbolisiert, daß beide tiergestaltige Monster mit Füßen treten: Diese symbolisieren die dämonischen Mächte des Bösen, in der konkreten Situation des Krieges, der durch die Dichtung überwunden wird. Auffällig ist außerdem, daß in der Darstellung christliche Elemente Verwendung finden: Die Monster gleichen denjenigen, die sonst in der mittelalterlichen Kunst den Teufel repräsentieren; der Balken, den beide Gestalten mit je einer Hand stützen, erinnert an den Kreuzesbalken, schließlich trägt Vergil ein bißchen die Züge Christi. Der mittelalterliche Künstler dürfte also noch eine weitere bekannte Deutung der Eklogen in seine Darstellung integriert haben: Seit der Zeit Kaiser Konstantins wurde die Ankündigung der Geburt eines Knaben, der ein neues Goldenes Zeitalter herbeiführen wird, in der vierten Ekloge auf Christus gedeutet; Vergil wurde zu dem das Christentum bereits vorausahnenden heidnischen Dichter. Da außerdem Christus unter Kaiser Augustus geboren wurde, erschien dieser in der christlichen Geschichtsschreibung (Orosius) als der heidnische Friedenskaiser, unter dem erst das Kommen des Erlösers möglich wurde. Auch diese Vorstellungen scheinen in der Darstellung mitzuschwingen: Beide Gestalten treten ja die Monster mit Füßen, bezwingen also das Böse - Vergil, als Hauptgestalt im Vordergrund, durch seine Dichtung, die die Ankündigung des Erlösers enthält (Dichten ist auch Ausdruck des höchsten Ideals der vita contemplativa), Augustus, als Krieger Vertreter der vita activa und daher etwas in den Hintergrund gerückt, weil er Vergil das Dichten ermöglicht, indem er ihm den dazu nötigen Frieden gewährt. |