Konkordanz der Bildseiten der Handschriften von
Udalricus Campililiensis (Ulrich von Lilienfeld), Concordantiae caritatis
Zusammengestellt von Martin Roland
 
Lilienfeld, Stiftsbibliothek,  Cod. 151 – Fortschrittlicher Meister

Drei Gruppen wurden von einem sehr fortschrittlichen Meister ausgefuehrt (foll. 80v – Bild, 81v – Bild, 96v – Bild).
    Er steht auf einem wesentlich hoeheren Niveau als der Hauptmeister. Er verleiht seinen Szenen grosse Dramatik und Praesenz. Die Koerper sind ueberdeutlich modelliert und der Beschauer wird ganz unmittelbar in die dargestellten Ereignisse verstrickt. Die Figuren koennen sich kruemmen, extreme Emotionen ausdruecken und in erstaunlichen Haltungen verharren.
    Die drei Bildseiten des 'Fortschrittlichen Meisters' stellen ein erstaunlich fruehes Werk jenes Realismus dar, der als eine der Stilstroemungen die zweite Haelfte des 14. Jahrhunderts praegen wird (Pre-Eyckian Realism).
    Weder in Lilienfeld selbst noch in Oesterreich haben sich weitere Werke seiner Hand erhalten, und auch in Nordwesteuropa – seiner wahrscheinlichen kuenstlerischen Heimat – finden sich keine unmittelbar aehnlichen Kunstwerke.
    Gerhard Schmidt hat 1995 auf eine astronomische Handschrift (London, British Library, Ms. Sloane 3983) aufmerksam gemacht (Schmidt 1995, S. 758), die wohl in Flandern waehrend des 2. Viertels des 14. Jahrhunderts entstanden ist. Trotz der realistischen Tendenzen ist noch vieles von hochgotischen Gewandformeln gepraegt und daher nicht unmittelbar vergleichbar, sondern eher als entscheidender Ausgangspunkt zu werten.
    Dann folgen jene Jahre, in denen das Stilniveau jenem des ‚Fortschrittlichen Meisters‘ entsprechen mueßte, aus denen uns aber keine vergleichbaren Werke erhalten geblieben sind. Endpunkt der Entwicklung sind dann Codices wie eine Apokalypse-Handschrift in der John Rylands Library in Manchester (Ms. 19). Vergleiche zwischen dem rechten Engel auf fol. 6r oben (Roland 2002, Abb. 20) mit dem Engel auf fol. 81v (Bild) lassen erkennen, dass wir es hier mit zwei Werken zu tun haben, die aus denselben Quellen schoepfen. Gleichzeitig wird aber auch der schon fortschrittlichere Charakter der Apokalypse-Handschrift, die sicher erst nach 1360 entstanden ist, deutlich.
    Dass es diese vermeintliche Stilstufe tatsaechlich gab und dass es sich nicht um ein Konstrukt der Kunstgeschichte handelt, kann man – hoffe ich – recht schluessig belegen: Waehrend der uns interessierenden Periode laesst sich der westeuropaeische Einfluss naemlich in der Wiener Plastik konkret nachweisen (G. Schmidt, Die Wiener ‚Herzogswerkstatt‘ und die Kunst Nordwesteuropas, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 30/31, 1977/78, S. 179–206; zur im Folgenden genannten Minoritenwerkstatt siehe S. 180). Die sogenannte Minoritenwerkstatt hat zwei Portale dieser Wiener Kirche wohl in den 1440er Jahren mit Skulpturen ausgestattet. Vielleicht schon etwas frueher sind die Apostel des Suedchores von St. Stephan (Chorweihe 1340) entstanden. Es ergeben sich vielfaeltige Beziehungen zu den Concordantiae, die jedoch bisher noch nicht untersucht wurden. Sie belegen aber, dass diese Stilstufe der nordwesteuropaeischen Entwicklung tatsaechlich existierte und nicht nur im ‚Fortschrittlichen Meister‘ der Concordantiae belegbar ist, sondern auch in Werken der Wiener Plastik.

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