Ende des 19. Jahrhunderts
hat der Historiker und Archivar Albert Lecoy de La Marche eine
hochinteressante Textquelle zur Buchmalerei der zweiten Hälfte des 15.
Jahrhunderts ediert, die von Jean Luc Deuffic im November 2009 in seinem Blog
Pecia http://blog.pecia.fr/ online zur Verfügung gestellt
worden ist. Es handelt sich um die Verhörprotokolle des französischen
Illuminators Jehan Gillemer, der unter dem Verdacht stand, ein Spion in den
Diensten des Herzogs von Guyenne zu sein. Die Originale der Protokolle werden
in Paris aufbewahrt (Archives nationales, J 950, nos 13, 14).
Gillemer wurde zu Beginn des Jahres 1472 in Tours zwei Tage lang von dem
königlichen Vogt Tristan l’Ermite befragt, wobei man ihn am zweiten Tag der
„question extraordinaire“ unterzog, d. h. ihn folterte.
Die detaillierten Protokolle liefern ein Fülle von Informationen über das
Leben eines wandernden Buchmalers im Spätmittelalter. Beeindruckend ist die
enorme Mobilität des geschäftstüchtigen Gillemer, der seine Handschriften
unterwegs anbot, aber auch auf Bestellung arbeitete. Zudem ließ er auf Wunsch
Bücher binden. Auf den vielen Reisen, die er unternahm, sorgte er sich
verständlicherweise um seine Sicherheit und Gesundheit.
Dies verraten die vielen brevets, die er mit sich führte. Dabei
handelt es sich um kleine Schriftstücke, Zettelchen, Streifen etc. mit
Notiz-, aber auch mit Talisman- und Zauberformelcharakter, die die
abergläubische Seite dieses Buchmalers offenbaren. So griff er beispielsweise
zu astrologischen Hilfsmitteln, als er in Poitiers, wo er ein Atelier
leitete, mit einer Gruppe widerspenstiger Mitarbeiter zurechtkommen mußte.
Oder er versuchte, den Zahnschmerzen, von denen er immer wieder heimgesucht
worden zu sein scheint, mit Gebetsformeln beizukommen. Letztendlich sind es
diese brevets, die die Aufmerksamkeit der Justiz auf ihn lenkten.
Die in Mittelfranzösisch abgefaßten Protokolle sind gut erschlossen. Lecoy de
La Marche versah seine Edition mit ausführlichen Erläuterungen:
Interrogatoire d’un enlumineur par Tristan l’Ermite. Revue de l’art
chrétien, ser. 5/III, 1892, S. 396–408; Kommentar S. 396–405, Edition: S.
406–408.
2002 verfaßte die amerikanische Kunsthistorikerin und Bildhauerin Véronique
P. Day einen weiteren detaillierten Kommentar sowie eine englische
Übersetzung von etwa zwei Dritteln der Protokolltexte: Portrait of a
Provincial Artist: Jehan Gillemer, Poitevin Illuminator. Gesta 41/1,
2002, S. 39–49; Kommentar S. 39–44, Übersetzung: S. 44–49. Diese Arbeit ist
bei Jstor abrufbar: http://www.jstor.org/stable/767204.
Beide Autoren liefern vielfältige Hintergrundinformationen, insbesondere zum
historischen und kunstgeschichtlichen Umfeld, in dem Jehan Gillemer
einzuordnen ist. Zu den bislang mit Notnamen versehenen Meistern, die
eventuell mit Gillemer identisch sein könnten, siehe Véronique P. Day, S. 40.
Man beachte auch die Landkarte bei Véronique P. Day (S. 43, Fig. 3), in der
die vielen Orte eingetragen sind, an denen Gillemer Geschäfte abwickelte.
Die hier zur Verfügung gestellte Übersetzung der Befragungsprotokolle ins
Deutsche soll diese Textquelle für Handschriftenbearbeiter und Kunsthistoriker
im deutschsprachigen Raum leichter zugänglich machen.
Mein Hauptanliegen bei der Übersetzung, die auf der Edition von Lecoy de La
Marche
basiert, war es, so nahe wie möglich am Originaltext zu bleiben. Da in den
Protokollen sehr häufig indirekte Rede verwendet wird, ließen sich dabei
einige umständliche Formulierungen nicht vermeiden. Es wird jedenfalls
deutlich, daß sich juristische Texte des Spätmittelalters in Bezug auf
verschachtelten Satzbau und Schwerfälligkeit nur wenig von juristischen
Texten der Jetztzeit unterscheiden.
Zur besseren Übersichtlichkeit wurden sowohl die 33 Abschnitte der
französischen Edition als auch der deutschen Übersetzung parallel
durchnumeriert.
Die Ansetzung der Personen- und Ortsnamen folgt den neuzeitlichen Benennungen
bei Véronique P. Day.
In runden Klammern stehen Ergänzungen und Erläuterungen, die ich nur sehr
sparsam eingefügt habe, da die ausführlichen Kommentare Lecoy de La Marches
und Days vorliegen.
Susanne Rischpler (Wien,
Januar 2010)
>> Materialien zur Buchmalerei
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